24. Januar 2023
Berichten in der Presse zufolge bringt der Wettbewerber ein neues Produkt mit einer Technologie heraus, bezüglich derer das eigene Unternehmen noch in den Anfängen steckt. Hastig wird eine Managementrunde einberufen. Die Geschäftsführung beschließt, die Prioritäten in der Forschung und Entwicklung zu ändern, um keinesfalls den Anschluss an den Wettbewerber zu verlieren. Der Vertrieb ist jedoch der Auffassung, dass man besser beraten wäre, die F&E-Ressourcen für die aktuellen Produkte einzusetzen, um nicht wegen Problemen mit deren Qualität weitere Kunden zu verlieren. Das neue Produkt herauszubringen würde erstens lange dauern, und zweitens sei das Ganze sowieso nur ein Hype, den die meisten Kunden aus Kosten-Nutzen-Gründen ablehnen würden. Der zurzeit eingeschlagene Kurs sei der absolut richtige.
Das ist eine typische Situation, wie sie sich im Management in tausendfacher Form jeden Tag zuträgt. Dabei geht es um kleine und auch große Dinge. Die weitere Entwicklung kann unzählige verschiedene Verläufe annehmen. Dennoch beobachte ich immer wieder, dass vier Verlaufsvarianten sehr typisch und häufig anzutreffen sind.
Erstes Szenario: Aus einer Laune heraus wird an einer bestimmten Überzeugung festgehalten. Bei unserem Beispiel priorisiert die Geschäftsführung wegen der Pressemeldung und der Bilder, die durch sie in den Köpfen der Mitglieder erzeugt werden, den Einsatz der vorhandenen Ressourcen in Forschung und Entwicklung. Dies folgt jedoch nicht einer gründlich vorbereiteten und wohlüberlegten Entscheidung, die die anderen Aufgabenstellungen mitberücksichtigt. Launenhaftigkeit ist nichts anderes als angstgetriebener Aktionismus. Sie hat mit Intuition, also einem Gespür dafür, was nur vermeintliche und was echte Notwendigkeiten sind, rein gar nichts zu tun.
Szenario 2: Auf die Argumente des Vertriebs hin beauftragt die Geschäftsführung eine Analyse, was es bedeuten würde, die Produktpflege herunterzufahren, um Ressourcen für die neue Technologie freizusetzen. Zeitgleich soll das Marktpotenzial eingeschätzt werden: Welcher Marktanteil kann gewonnen werden, und wie viel würde dem Unternehmen ohne die neue Technologie verloren gehen? Die damit ausgedrückte Unfähigkeit, mit Unschärfe und Unsicherheit umzugehen, beweist ein Misstrauen gegenüber der eigenen Intuition und der von anderen. Sie führt nicht selten zu ausufernden Analyse- und Bewertungsanstrengungen. Da auch dies meist kein Einzelfall ist, wundert man sich irgendwann, dass man sich mehr mit sich selbst beschäftigt, als Produkte voranzubringen und den Markt zu bearbeiten.
Das Szenario 3 bewegt sich am anderen Ende der Skala. Mit einem Ausdruck großer Wertschätzung für den Vertrieb ignoriert man den Vorsprung des Wettbewerbers und setzt stattdessen auf die Marktführerschaft und die Verstärkung der Kundenbeziehungen, indem man die F&E-Ressourcen für die Bestandsprodukte einsetzt. Dieses vorschnelle Vorgehen ist begründet in der Faulheit, sich intensiv mit dem Für und Wider des Themas auseinanderzusetzen. Man macht sich also hier nicht einmal die Mühe, die eigene Intuition abzufragen. Wenn dies zum Dauerphänomen wird, ist das Unternehmen im Blindflug unterwegs und akut gefährdet.
Natürlich gibt es zwischen diesen verschiedenen Varianten viele Zwischenstufen. Bei dem letzten Szenario ist eine Bewusstheit vorhanden für die eigene Intuition und die der anderen. Diese ist verbunden mit einer starken Ergebnisorientierung und dem Wissen, dass der Schlüssel zum Erfolg niemals in den Fakten liegt, sondern dass das unbewusste Gespür erfahrener Menschen wesentlich wichtiger ist als alle Charts und Excel-Bewertungen dieser Welt.
Bildquelle: AdobeStock pogonici
Vielleicht fragen Sie sich nun: Also erfolgen keinerlei Analysen? Ist das nicht naiv? Das ist damit keineswegs gesagt! Sehen wir uns den Ablauf des Geschehens an: Einer der Geschäftsführer fragt ab, was das Gespür jedes einzelnen Mitglieds der Geschäftsführung sagt. Wer in der Runde würde was machen? Natürlich kommt bei einer vernünftigen Diskussion nicht heraus, dass Frau Müller dieses und Herr Meier jenes machen würde, um dann über die verschiedenen Varianten abzustimmen. Das wäre untere Kreisklasse.
Vielmehr kommen einige Thesen ins Spiel nach dem Motto: „Meiner Meinung nach sollten wir am aktuellen Kurs festhalten. Ich unterstelle dabei, dass es dem Wettbewerber nicht gelingen wird, in den kommenden sechs Monaten einen wirklich erfolgreichen Piloten 10 herauszubringen, sondern dass sie damit baden gehen.“ Nach der Diskussion stehen dann vielleicht drei, vier oder fünf Thesen im Raum, mit denen man ins Rennen geht, also eine Entscheidung fällt. Anschließend wird die weitere Entwicklung genauestens beobachtet, um die getroffene Entscheidung erforderlichenfalls zu korrigieren, ist man doch schlauer geworden, nachdem eine bestimmte These widerlegt worden ist.
Es erstaunt mich immer wieder, wie sehr wir glauben, im Management faktenorientiert vorgehen zu müssen, um unsere Aufgaben in den Griff zu bekommen. Dabei blähen wir nicht selten den Aufwand, den es braucht, um zu einer Entscheidung zu kommen, unnötig auf (Analyse-Aktionismus) und wundern uns dann, dass man zunehmend langsamer wird, dass Entscheidungen sich ständig verzögern oder – schlimmstenfalls – überhaupt nicht gefällt werden. Fragen Sie Ihre und die Intuition Ihrer Kollegen ab – und das ganz gezielt. Wenn Sie das möchten, gehen Sie mithilfe einer Skala dabei vor: Für was würdest du dich entscheiden? Und wie sicher bist du dir dabei auf einer Skala von 1 bis 10? Wenn dann eine 7 kommt, fragen Sie: Was sind die Unsicherheiten, die dich dazu veranlassen, keine 10 zu vergeben? Und schon haben Sie die entscheidenden Thesen, die es unter Umständen ebenfalls ein wenig genauer zu analysieren gilt, damit man mit voller Überzeugung eine bestimmte Entscheidung fällen kann. Dieser Umgang mit Unschärfe und Unsicherheit muss trainiert werden. Der Grat zwischen Geschwindigkeit und Fahrlässigkeit ist hierbei sehr schmal, aber ihn zu bewältigen ist zukunftsentscheidend.
Ihr
Matthias Kolbusa
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